Multiple Sklerose

22. Februar 1990

Der Tag vor meinem 30. Geburtstag. Während andere am Vorabend ihres runden Geburtstages tonnenweise Salate rühren und nochmals die Getränkeliste durchgehen, sitze ich seit 14 Tagen in der Neurologie. Der junge Doktor, vielleicht in meinem Alter, hält ganz fest meine Hand. Das weiß ich noch genau. Wir sind beide stark, das fühle ich. Aber er weiß nicht, wie er es mir sagen soll – und so sage ich es ihm und er nickt! Am nächsten Tag fahre ich nach Hause, die tickende Bombe im Handgepäck – meine Diagnose MS.

3 Jahre später: Die Besuche beim Neurologen habe ich eingestellt. Was will ich mit mitleidigen Blicken und Cortison-Therapien? Lieber stöbere ich in der Esoterik-Ecke unseres Buchladens, verschlinge alles, was mir in die Hände fällt – schließe einen Pakt … mit der Zeitbombe.

Meine beste Freundin – wir haben ein Theater-Abo. Der junge Doktor ist auch immer da. Ich spreche ihn nicht an, warum sollte er sich an mich erinnern? Aber in den folgenden Monaten wird er immer weniger – geschockt beobachte ich diese Veränderung. Irgendwann kommt seine Begleitung allein.

Fast zeitgleich lerne ich den Mann meines Lebens kennen. Er gibt mir Kraft und Mut …und so viel Liebe. Es geht gar nicht anders, wir müssen gemeinsam weitergehen und ich ziehe einfach zu ihm.

Heute: – 22 Jahre sind seitdem vergangen. Viele Jahre habe ich den Pakt eingehalten. Immer auf die Signale meines Körpers gehört und mich dann geschont. Ich sprach nie darüber, verbot jedem das Wort! Jedem? Genau 3 Leute wussten davon – und in meinem neuen Leben? NIEMAND! In den letzten Jahren zog die Leichtsinnigkeit in mein Leben und ich sprach zu den 3 Leuten von einer Fehldiagnose.

Tja, aber dann ist so viel passiert. Das Schicksal fuhr Sonderschichten, mein Mann und die Tochter wurde beide sehr krank und manche Freunde gingen ohne Wiederkehr. So verschwand die Leichtigkeit aus meinem Leben  und es war mir nicht mehr möglich, auf die Zeichen zu hören.

Im Sommer 2010 ist es dann passiert. 14 Tage Komplettausfall und niemand wusste, was mit mir los war. Ich ging dann wieder arbeiten, hatte jedoch das Gefühl, jeden Tag einen Drahtseilakt vollbringen zu müssen. Alles war so anstrengend geworden und so gab es letztendlich nur noch einen *Ausweg*. Alles musste weg, denn ich konnte nicht mehr. *Alles* war in dem Fall der Job und vier Monate später blieb ich dann zuhause.

Als  Zwillingsoma sieht man keiner Langeweile entgegen, da war ich mir ganz sicher, aber schon wieder sprach der Körper sein Machtwort. Die Bewältigung des ganz normalen Alltags wurde zum Hochleistungssport und ich war sehr oft krank. Jeden Virus nahm der Körper dankend an, um dann wieder tagelang feste im Bett zu liegen. Es ging einfach nicht aufwärts. Mein bester Doktor sprach von Zukunftsangst, aber ich erbat eine Überweisung zum Neurologen. Der Befund des MRT war niederschmetternd, über 70 Läsionen im Kopf, aber jetzt gab es wenigstens eine Erklärung für meinen Zustand. Da hat die Bombe mich aber ganz schön gelinkt – oder ich habe sie sehr enttäuscht.

Vielleicht sollten wir auch noch mal reden* meine Bombe* und ich. Jetzt rede ich aber erst mal hier – und zwar genau 5 Wochen lang.

(meine Geschichte, geschrieben in der Rehamaßnahme und veröffentlicht im Mühlengrundjournal 2012, Reinhardshausen)

Ein Gedanke zu „Multiple Sklerose“

  1. Liebe Andrea, Du hast hier eine wunderbare Seite mit sehr ergreifenden Geschichten, gedichten und einfach Erfreulichem 🙂
    Lasse es Dir so gut wie möglich gehen und viel Spaß und Erfolg mit deiner Page. Wir „lesen“ uns 🙂
    Ganz liebe Grüße, Heike

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