vox humana

Nieder stieg ich zu vergessen,
was ich einst im Licht besaß

und doch nie bewußt besessen,

weil ich es noch nie vergaß.

Durch Vergeßnes muß ich dringen,
selber muß ich, geistgeweiht,

in Erinnerung erringen

meines Wesens Wesenheit.

Grabe*n muß ich Grabeshügel,
sterben lassen, was erstarb,

bis der Freiheit Flammenflügel

sich mein eignes Ich erwarb.

Bis die Worte in mir reden,
die ich unbewußt gewußt,

bis in mir der Garten Eden

mein wird in der eignen Brust.

Manfred Kyber

Schicksal

Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht
zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt

Johann Wolfgang von Goethe,
orphische Urworte

der eigene Wert

Mit der Zeit lernst Du,
dass eine Hand halten nicht dasselbe ist
wie eine Seele fesseln
Und dass Liebe nicht Anlehnen bedeutet
und Begleitung nicht Sicherheit
Du lernst allmählich,
dass Küsse keine Verträge sind
und Geschenke keine Versprechen
Und Du beginnst,
Deine Niederlagen erhobenen Hauptes
und offenen Auges hinzunehmen
mit der Würde des Erwachsenen,
nicht maulend wie ein Kind
Und Du lernst,
all Deine Straßen auf dem Heute zu bauen,
weil das Morgen
ein zu unsicherer Boden ist
Mit der Zeit erkennst Du,
dass sogar Sonnenschein brennt,
wenn Du zuviel davon abbekommst
Also bestell Deinen Garten
und schmücke selbst
Dir die Seele mit Blumen,
statt darauf zu warten,
dass andere Dir Kränze flechten
Und bedenke,
dass Du wirklich standhalten kannst …
und wirklich stark bist.
Und dass Du Deinen eigenen Wert hast.

Kelly Priest

Herbst

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Rainer Maria Rilke (1875-1926)